Deutsches Gesundheitssystem am Scheideweg

22.06.2004


22.06.2004, Weitere Verstaatlichung oder Privatisierung der Kassen? Die beiden deutschen Volksparteien stehen sich in der Gesundheitspolitik wie bei kaum einem anderen Thema mit klaren Alternativkonzepten gegenüber.

Während Rot-Grün die gesetzliche Krankenversicherung noch ausdehnen will, ohne deren Grundprobleme zu lösen, schlägt die CDU den Systemwechsel zu Gesundheitsprämien vor. Trotz erheblichen Akzeptanzproblemen dürfte daran kein Weg vorbeiführen.

pra. Berlin, Mitte Juni - Kaum beginnt sich der Dauerpatient von der letzten, wenige Monate zurückliegenden Operation zu erholen, wird bereits über den nächsten, ungleich schwereren Eingriff debattiert: Das deutsche Gesundheitssystem unterliegt der Dauertherapie durch Politiker, Lobbyisten und Experten, ohne dass Aussicht auf eine nachhaltige Genesung bestünde. Der Problemdruck entsteht wie überall durch die stetig steigenden Gesundheitskosten, wird jedoch in Deutschland durch das ungünstige Finanzierungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wesentlich verstärkt.

Unsinnige Belastung der Arbeitskosten Die gesetzlichen Krankenkassen, die rund 90% der Bevölkerung versichern, werden über Lohnprozente der Arbeitnehmer finanziert. Da deren Zahl wegen der wirtschaftlichen Stagnation abgenommen hat und viele Versicherte (Ehefrauen, Kinder, Erwerbslose) von der Beitragspflicht ganz oder weitgehend ausgenommen sind, nahm die Belastung der Arbeitnehmer übermässig zu; zur Zeit liegt sie inklusive Arbeitgeberanteil bei 14,2% des Bruttolohns. Ohne Gegensteuer werden die Beitragssätze wegen des technischen Fortschritts, höherer Ansprüche sowie der demographischen Verschiebungen weiter steigen, laut Schätzungen auf 25% bis 34% bis zum Jahr 2030. Das kann mit Blick auf die hohe Arbeitslosigkeit nicht hingenommen werden. Deshalb muss die gesetzliche Krankenversicherung auf eine neue, breitere Finanzierungsbasis gestellt werden, worüber weitgehender Konsens besteht. Doch über die Art der Neufinanzierung sind zwangsläufig harte Verteilkämpfe entbrannt, welche die parteipolitischen Auseinandersetzungen bis in den Bundeswahlkampf 2006 prägen dürften.

Die Grundpositionen sind bezogen, wenn auch noch wenig gefestigt. Die SPD und die Grünen haben sich der sogenannten Bürgerversicherung verschrieben, die den Einflussbereich der gesetzlichen auf Kosten der privaten Krankenversicherung (PKV) auf alle Bürger ausdehnen und neben den Lohneinkommen auch die privaten Kapitaleinkommen zur Finanzierung herbeiziehen will. Damit würde die Finanzierungsbasis der GKV ausgeweitet, ohne dass das bestehende System grundlegend verändert werden müsste. Die Bürgerversicherung hat indessen den entscheidenden Nachteil, dass die Arbeitskosten kaum entlastet würden. Zudem scheinen die Sozialdemokraten erst zögerlich zu erkennen, dass die erhofften Zusatzeinnahmen durch die Erfassung der Kapitaleinkommen enttäuschend ausfallen dürften. Wegen der Beitragsbemessungsgrenze von gegenwärtig 3487 EUR pro Monat müssten die in klassenkämpferischer Manier anvisierten Grossverdiener gar nicht mehr einzahlen. Stärker belastet würde dagegen der Mittelstand mit Vermögenseinkommen, was wohl kaum gewollt ist.

Transparentere Umverteilung Die CDU hat sich für einen grundlegenden Systemwechsel entschieden. Unter Drängen der Parteipräsidentin Angela Merkel will sie die gesetzlichen Krankenkassen künftig durch einheitliche Gesundheitsprämien finanzieren. Die hohen Lohnnebenkosten würden dadurch massiv reduziert und die Arbeitsanreize verstärkt, was dem deutschen Arbeitsmarkt einen Schub vermitteln dürfte. Allerdings hätte dies erhebliche Mehrbelastungen von Familien und Bezügern geringer Einkommen zur Folge, da diese bisher nur bescheidene Beiträge an die Krankenversicherung leisten. Dieser Effekt müsste durch Zuzahlungen aus Steuergeldern kompensiert werden, die je nach konkreter Ausgestaltung auf 23 Mrd. bis 28 Mrd. EUR geschätzt werden. Dazu würden allerdings durch den Systemwechsel bereits rund 18 Mrd. EUR beigesteuert, indem die Arbeitgeberbeiträge zur GKV künftig ausgezahlt und voll versteuert würden.

Insgesamt gleicht das CDU-Modell stark dem Schweizer Gesundheitssystem. Im ursprünglichen Konzept war zusätzlich eine Komponente zur Kapitalbildung vorgesehen, um den Kostenanstieg im Alter zu dämpfen. Dies scheint aber wegen der Mehrbelastungen inzwischen wieder aufgegeben worden zu sein. Nach den neuesten Vorstellungen soll die Prämie 180 EUR kosten und für Kinder vom Staat bezahlt werden. Die CSU lässt jedoch keine Gelegenheit aus, um öffentlich an der Umsetzbarkeit der Gesundheitsprämien zu zweifeln. Dem führenden CSU-Sozialpolitiker Horst Seehofer sind vor allem die schon bisher massiv gewesenen, aber mit dem Prämiensystem erstmals transparenten - und damit angreifbaren - direkten Umverteilungsmassnahmen ein Dorn im Auge. Die CSU scheint dem Status quo anzuhängen, mit unklarer Reformperspektive.

Die FDP schliesslich hat sich an ihrem Parteitag Anfang Juni für das radikalste Modell einer vollständigen Privatisierung der GKV entschlossen. Demnach müssen alle Kassen allen Bürgern einen reduzierten Leistungskatalog anbieten. Die Prämien werden von den Unternehmen pauschal festgesetzt, Bedürftige erhalten Zuschüsse vom Staat. Zudem werden Altersrückstellungen zum Ausgleich der Prämienzahlungen über das Lebensalter aufgebaut. Allerdings liess die FDP den kritischen Punkt ihres Modells, den Transfer der Altersrückstellungen, stillschweigend offen.

Die Crux der Altersrückstellungen Krankenkassensysteme mit Kapitaldeckung leiden unter dem grundsätzlichen Problem, wie die den Versicherten zustehenden Rückstellungen bei Kassenwechseln berechnet werden sollen, ohne dass Verzerrungen und negative Anreizeffekte entstehen. Theoretisch wäre, wie der Kronberger Kreis betont, eine individuelle prospektive Altersrückstellung ideal, die beim Kassenwechsel zum vollen Barwert transferiert würde. Doch wie soll diese für alle Seiten akzeptabel und justiziabel berechnet werden? Der Geschäftsführer des Verbands der privaten Krankenkassen, Christian Weber, hält dies für unmöglich. In der PKV ist das Problem mit höchstrichterlicher Bestätigung so "gelöst" worden, dass beim Kassenwechsel überhaupt keine Rückstellungen mitgegeben werden. Das hat zur Folge, dass die Versicherten nach einigen Beitragsjahren ihre Kasse nicht mehr zu akzeptablen Konditionen wechseln können; der Wettbewerb wird dadurch erheblich eingeschränkt.

Deshalb sieht sich die PKV nicht nur dem existenzbedrohenden Druck der linken Bürgerversicherung ausgesetzt, sondern auch der Kritik wirtschaftsliberaler Experten. Der Verband der privaten Krankenkassen hat im Juni darauf reagiert und ein neues Modell vorgeschlagen. Es sieht eine einheitliche, der GKV angelehnte Grundversicherung vor, die von allen Privatkassen angeboten wird. Die Versicherten können darin ohne Verluste und ohne Gesundheitstest frei wechseln. Die Altersrückstellungen werden nicht ausgezahlt, stattdessen wird ein Risikostruktur-Ausgleich zwischen den Kassen vorgenommen. Er ist hinwiederum ein Einfallstor für Wettbewerbsbehinderungen, weshalb das Problem nicht wirklich gelöst wird.

Duell zweier Systeme Der Primat der Praxistauglichkeit dürfte die Vielfalt der Modelle schliesslich auf ein Duell zwischen Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung reduzieren. Die Gesundheitsprämie ohne Altersrückstellungen ist einfach, transparent und bewährt. Sie führt zwar wegen des notwendigen Risikostruktur-Ausgleichs zwischen den Kassen auch nur zu einem beschränkten Wettbewerb, löst aber das Hauptproblem der GKV, die hohen Lohnnebenkosten, vollständig. Die grundsätzlich wünschbaren, aber nur unzulänglich realisierbaren Altersrückstellungen können, wie der Regierungsberater Bert Rürup betont, in anderen Sozialsystemen effizienter realisiert werden, allen voran in der Altersvorsorge. Deshalb kann auf sie verzichtet werden. Im Interesse von Freiheit und Gerechtigkeit sollte zudem, wie die Gemeinschaftsinitiative Soziale Marktwirtschaft vorgeschlagen hat, die willkürliche Versicherungspflichtgrenze zwischen GKV und PKV aufgehoben und ein einheitliches System mit freier Kassenwahl, einer Grundversicherung und Prämien geschaffen werden.

Der häufig anzutreffende Einwand, ein solches System habe in der Schweiz auch nicht zu geringeren Kostensteigerungen geführt, trifft daneben. Die Finanzierungsfrage muss losgelöst vom inneren Kostendruck des Gesundheitssystems diskutiert werden, dem primär durch eine Stärkung des Wettbewerbs beizukommen ist. Jener kann in jedem System verbessert werden. Auch die Behauptung, der Staat könne die für den Sozialausgleich nötigen 5 Mrd. bis 10 Mrd. EUR nicht aufbringen, ist nicht plausibel. Schlimmstenfalls wären dafür die Steuern zu erhöhen, wodurch lediglich eine Zwangsabgabe durch eine andere (und effizientere) ersetzt würde.

Dem gleichzeitig wirtschaftlichsten und realistischsten Gesundheitssystem für Deutschland kommen die Vorschläge der CDU und der FDP am nächsten. An einer Gesundheitsprämie, auch wenn sie den Bürgern noch so fremd vorkommen mag, wird kein Weg vorbeiführen. Die Bürgerversicherung wäre dagegen eine Katastrophe für das Land. Sie würde das Hauptproblem der GKV, die hohen Lohnnebenkosten, nicht beseitigen. Zudem würde sie den Wettbewerb mit den privaten Kassen noch mehr strangulieren. Wie in kaum einer anderen reformpolitischen Frage stehen sich hier die zwei Volksparteien mit veritablen Alternativkonzepten gegenüber. Für faule Kompromisse ist kein Raum. Umso spannender werden die gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen sein.

--- ENDE Pressemitteilung Deutsches Gesundheitssystem am Scheideweg ---


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