Das Lazarett der Krankenkassen

12.09.2003

Uhr Lesedauer: 6 Minuten


12.09.2003, Die Aufsicht reagierte zu spät auf die schlechte Finanzlage der Versicherer.


Charles Barbey, der neue Generaldirektor der Waadtländer Krankenkasse Supra, ist kein Freund von Transparenz. Deshalb publiziert er keinen Geschäftsbericht.

Seit dem 5. September ist sein Versteckspiel im Grundversicherungsgeschäft beendet: Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) veröffentlichte die Aufsichtsdaten aller Krankenversicherer für das Geschäftsjahr 2002. Die Bilanz fällt düster aus: Die Branche verfügt noch über eine Reservequote von 12,8 Prozent. Laut Peter Marbet, dem Sprecher des Branchenverbands Santésuisse, wären 16,3 Prozent das notwendige Mittel.

«Die Situation ist gravierend», konstatiert Marbet. Ende 2002 erfüllten 52 von 93 Krankenversicherern die gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen bezüglich Resserven nicht. Das ist für den Ökonomen Robert Leu von der Universität Bern unverständlich: « Über die Reservesätze kann man nicht diskutieren. Wenn sie gesetzlich vorgeschrieben sind, müssen sie auch eingehalten werden.»

Wachstumsstrategie liess Reserven schmelzen

Die Lage der Supra ist zappenduster: Der Versicherer weist in der Grundversicherung eine Unterdeckung von 3,2 Prozent bei den Reserven aus. Das Loch beim Eigenkapital beträgt über zwölf Millionen Franken. Gesetzlich vorgeschrieben wäre eine Reservequote von 20 Prozent. Das entspricht rund 80 Millionen Franken. Heute verlangt die Supra im Durchschnitt die höchsten Prämien, errechnete das VZ Vermögenszentrum. Deshalb verlor sie innert anderthalb Jahren über 100000 Kunden.

Der Fall ist exemplarisch für Kassen, die sich nach der 1996 erfolgten Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) einer Wachstumsstrategie verschrieben haben. Mit tiefen Prämien werden junge, gesunde Wechselwähler angezogen. Für diese so genannten guten Risiken muss da- nach viel Geld in den Risikoausgleich für Kassen mit älteren, kränkeren Versicherten einbezahlt werden.

Dieser Hebeleffekt wird bei der Prämienkalkulation oft unterschätzt: So zahlte die Betriebskrankenkasse (BKK) Heerbrugg 1999 für ihre 6900 Mitglieder 450000 Franken in den Risikoausgleich. 2002 waren es für 16 500 Versicherte bereits 7,3 Millionen oder 27,4 Prozent der Einnahmen in der Grundversicherung.

Das führte zu einem Verlust von 2,8 Millionen Franken. Die Reserven schmolzen gegen null Prozent. Um sie wieder zu äufnen, mussten die Prämien für 2003 laut Kassenchef Josef Hutter um 15 Prozent angehoben werden. 2004 werden es gegen zehn Prozent sein. Damit liegt der Aufschlag zum zweiten Mal hintereinander fünf Prozent über dem Branchenschnitt. Die «guten Risiken» suchen sich bereits einen billigeren Versicherer.

Wer Pech hat, erhält unter dem Jahr eine Prämienerhöhung

Dennoch waren Ende 2002 die Reserven weg. Bei der Krankenkasse Brugg beträgt die Quote noch 1,5 Prozent. Direktor Hans Rudolf Matter erwägt nun, das Tätigkeitsgebiet auf den Aargau und die umliegenden Kantone zu beschränken, um den Zuwachs zu stoppen.

Wenn es ganz schief läuft, wie bei der Supra, der Panorama oder der Intras, bei der das Loch bei den Reserven Ende 2002 rund 150 Millionen Franken betrug, wird den Versicherten gar eine ausserordentliche Prämienerhöhung im Verlauf des Jahres zugemutet. Diese Kassen werden - im Gegensatz zur Pleite gegangenen KK Zurzach - wohl überleben. Die Panorama gab ihre Unabhängigkeit auf und rettete sich unter das Dach der Groupe Mutuel. Dort ist sie nun eine von 16 Kassen. Ende 2002 unterschritten davon zwölf die Reservequoten.

Im Fall der Accorda glaubt das BSV nicht an einen Turnaround. Es will erstmals einer Kasse die Betriebsbewilligung entziehen. Sie ist eine von fünf Kassen, die Ende 2002 eine Unterdeckung bei den Reserven ausgewiesen haben. Für den Gesundheitsökonomen Willy Oggier ist nicht erklärbar, warum nur die Accorda aufgelöst worden ist: « Die Aufsicht müsste gleiche Tatbestände gleich behandeln.»

Ob es zur Schliessung kommt, wird das Eidgenössische Versicherungsgericht entscheiden müssen. Der Verwaltungsrat der von Ärzten und Apothekern lancierten Kasse beschloss am letzten Dienstagabend, gegen den Entscheid des BSV Rekurs einzulegen. Dies bestätigte Präsident Nagib Sar raf. Seine Kasse erlitt gemäss Aufsichtsdaten des BSV mit 317 Franken den zweithöchsten Verlust pro Versicherten. 2002 war mit einem Minus von 220.3 Millionen Franken das vierte Verlustjahr in Folge für die Branche. Das widerspricht dem Geist der Verordnung über die Krankenversicherung: « Die Versicherer haben jeweils für eine Finanzierungsperiode von zwei Jahren das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben sicherzustellen.»

Seit 1996 schmolzen die Reserven um über eine Milliarde Franken, bestätigt der Leiter des BSV- Bereichs Aufsicht KV, Daniel Wiedmer. Das Departement schürte gezielt den Abbau der Reserven: 1998 wurde die vorgeschriebene Quote für die grossen Versicherer mit über 250000 Kunden von 20 auf 15 Prozent gesenkt, um die Prämienerhöhungen mittels Reservenabbau zu dämpfen.

Diese Politik ist gescheitert. Der Gesundheitsökonom Willy Oggier kritisiert: « Die Aufsichtsbehörde nimmt ihre Funktion nicht wahr und lässt auf Dauer einen gesetzwidrigen Zustand zu, der zu einer Wettbewerbsverzerrung führt. Das ist ein klassischer Fall von Staatsversagen.»

Es dauert Jahre, bis die Reserven aufgebaut sind

Diesen Vorwurf weist Daniel Wiedmer vom BSV zurück. In den letzten zwei Jahren habe man dank durchschnittlichen Prämienerhöhungen von je an die zehn Prozent den Turnaround geschafft. Finanziell angeschlagene Versicherer würden enger beaufsichtigt. Diese Unternehmen seien verpflichtet worden, dem BSV regelmässig über den Geschäftsgang Bericht zu erstatten, Sanierungskonzepte zu erarbeiten oder ihr Tätigkeitsgebiet einzuschränken.

Bis die Kassen ihre Reserven wieder auf den vorgeschriebenen Stand gebracht haben, vergehen Jahre. Sie müssen laut Oggier ihre Prämien überdurchschnittlich erhöhen. Das wird für die Versicherten teuer, die ausharren. Die agileren wechseln. Die schlausten hüpfen alljährlich zur Firma mit den tiefsten Grundversicherungsprämien.

Die Reserve-Vorschriften werden im nächsten Jahr verdreifacht

- Diese "Sicherheits- und Schwankungsreserven" dienen dazu, Verluste in der sozialen Grundversicherung abzudecken, die wegen falscher Prognosen in Bezug auf Kosten, Wachstum oder Finanzanlagen entstehen. Zudem werden diese Reserven benötigt, falls beispielsweise Epidemien auftreten.

- Die heutige, in derVerordnung über die Krankenversicherung festgehaltene Regelung ist kompliziert: Krankenkassen mit weniger als 100 Versicherten müssen eine Reservequote von 182 Prozent ihrer jährlichen Prämieneinnahmen in der Grundversicherung ausweisen.

Für die anderen Versicherer gilt:

- 96 Prozent bis 500 Versicherte. - 73 Prozent bis 1000 Versicherte. - 52 Prozent bis 2500 Versicherte. - 42 Prozent bis 5000 Versicherte. - 34 Prozent bis 10 000 Versicherte. - 24 Prozent bis 50 000 Versicherte. - 20 Prozent bis 250 000 Versicherte. - 15 Prozent ab 250 000 Versicherten,

- Ab 2004 wird allen Kassen mit weniger als 250 000 Versicherten nur noch eine Reservequote von 20 Prozent vorgeschrieben

- Zudem müssen Unternehmen mit weniger als 50000 Kunden ab 2004 eine Rückversicherung für so genannte Grossrisiken abschliessen. Sie funktioniert bei der RVK Rück, einem Unternehmen, das bereits heute 50 kleinere Kassen rückversichert, folgendermassen: Die RVK Rück übernimmt die Gesundheitskosten von Versicherten, die je nach Vereinbarung im Einzelfallpro Jahr 33000, 65 000 oder 100 000 Franken übersteigen. Dafür bezahlen Versicherer, je nach Grösse und Häufigkeit ihrer Schadenfälle, eine Prämie, die zwischen 0,2 und 7 Prozent ihrer gesamten Ausgaben für Gesundheitsleistungen beträgt.

--- ENDE Pressemitteilung Das Lazarett der Krankenkassen ---


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