23.07.2003
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23.07.2003, In einer Studie zu den Gesundheitskosten von 1960 bis 2000 zeigt das Bundesamt für Statistik (BFS),
dass es im Schweizer Gesundheitswesen keine «Kostenexplosion» gibt. Vielmehr sind die
Gesundheitskosten in den letzten 40 Jahren stetig gewachsen. In den Neunzigerjahren war die reale
Zunahme sogar kleiner als in den drei Jahrzehnten zuvor.
Die Verantwortung für den Kostenanstieg verteilt das BFS demokratisch auf alle Akteure des Gesundheitswesens.
Das Zahlenwerk bestätigt den alten Befund, dass die Finanzierung des schweizerischen Gesundheitssystems immer ungerechter wird: Der Anteil des Staates weist von 1960 bis 1971 zwar eine regelmässige Zunahme aus (von 31,4 auf 39,5 Prozent), beginnt dann aber kontinuierlich auf den «historischen Tiefststand» von 25,3 Prozent im Jahr 2000 zu sinken. (paf)
Kollektivschuld am Kostenwachstum
Aufschlussreiche Zahlen zum Anstieg der Gesundheitskosten
In einem neuen Zahlenwerk beleuchten die Bundesstatistiker die Gesundheitskosten von 1960 bis 2000. Ihr Fazit: Schuld am Kostenwachstum sind wir alle. Und: Der staatliche Finanzierungsanteil ist heute so tief wie nie zuvor in den letzten 40 Jahren. Im Gegenzug mussten die privaten Haushalte immer stärker bluten.
Die Bundesstatistiker in Neuenburg haben in ihren Computern alles verfügbare Zahlenmaterial zur Entwicklung der schweizerischen Gesundheitskosten von 1960 bis 2000 ausgewertet. Was herausgekommen ist, relativiert das von Politikern gerne verwendete dramatische Bild der «Kostenexplosion»: Die Kostenentwicklung ist kein Vulkanausbruch jüngeren Datums, sondern ein seit 40 Jahren stetig verlaufendes Phänomen (siehe Grafik). In den Jahren 1990 bis 2000, als die Politik sich mit neuer Vehemenz dem Gesundheitswesen zuwandte, war die reale, also teuerungsbereinigte Kostenzunahme mit jährlich 2,3 Prozent sogar kleiner als in den untersuchten Jahrzehnten zuvor: Zwischen 1960 und 2000 belief sie sich auf 3,9 Prozent.
Komplexes Geflecht von Ursachen
Die Gesundheitskosten sind losgelöst von Wirtschaftszyklen gestiegen, aber auch weitgehend unbeeinflusst vom seit 1996 gültigen Krankenversicherungsgesetz (KVG). «Der Kostenanstieg ist ein Gesellschaftsphänomen», heisst der Titel, den das Bundesamt für Statistik (BFS) über seine Pressemitteilung zur am Dienstag publizierten Studie gesetzt hat. Gestützt auf sein Zahlenwerk sieht das Amt ein komplexes Geflecht von Ursachen wirken: Erwähnt werden auf der Angebotsseite die wachsende Spezialisierung und Technisierung, die steigende Zahl von Ärzten in freier Praxis und die Entwicklung neuer, kostspieliger Medikamente. Auf der Nachfrageseite verweisen die Bundesstatistiker auf den (dank KVG) verbesserten Zugang der Bevölkerung zu qualitativ hochstehender Versorgung, die gestiegene Anspruchshaltung und andere Merkmale des gesellschaftlichen Wandels. Auf diese Weise verteilt das BFS die Verantwortung für das Kostenwachstum demokratisch auf alle Akteure (Patienten, Leistungserbringer, Krankenkassen, Gesundheitsbehörden). «Das Verhalten jedes Einzelnen trägt zur steigenden Kostenentwicklung bei.»
Spiegel der Gesellschaft
Der Gesellschaftswandel spiegelt sich anschaulich in der Kostenentwicklung der stationären Versorgung. Spitäler, Alters- und Pflegeheime, Behinderteninstitutionen, sozialpsychiatrische Einrichtungen, Suchtbehandlungsstellen ihr Anteil an den Gesamtkosten ist von 39,7 Prozent im Jahr 1960 auf 51,8 Prozent im Jahr 2000 gestiegen. Bevölkerungsalterung, loser gewordene familiäre und nachbarschaftliche Solidaritätsnetze und höhere Komfortansprüche erklären gemäss BFS den seit 1985 kräftig gestiegenen Kostenanteil der Alters- und Pflegeheime. Die teilweise Übernahme der Pflegekosten durch das KVG ab 1996 hingegen wirkte sich gemäss Statistik kaum aus. Der grösste Schub in diesem Bereich hatte schon vorher stattgefunden. «Soziale Ausgrenzungserscheinungen» sieht das BFS auch als Grund für den ab 1985 kräftig gestiegenen Kostenanteil der Einrichtungen für Behinderte, psychisch Kranke und Drogensüchtige. Insgesamt dehnte sich der Kostenanteil der stationären Versorgung am stärksten zwischen 1960 und 1971 aus. Der Kostenanteil der Spitäler stabilisierte sich nach 1995 als Folge des Trends hin zu ambulanter statt stationärer Behandlung. Im Spitalbereich hat das KVG leicht kostendämmend gewirkt.
Immer neue Medikamente
Nur scheinbar aus dem Schneider ist die Pharmaindustrie: Zwar hat sich der Kostenanteil der Gesundheitsgüter (hauptsächlich Medikamente) am Gesamtkuchen zwischen 1960 und 2000 von 24 auf 12 Prozent halbiert, dies als Folge von Effizienzgewinnen bei der Produktion und sinkenden Preisen für herkömmliche Medikamente. Seit 1980 entwickelt sich aber der Kostenanteil der Medikamente unstabil, und seit Mitte der Neunzigerjahre steigt er aufgrund teurer medikamentöser Behandlungen (z. B. bei Aids) ohne Zeichen einer Trendwende. Seit ein paar Jahren nimmt auch der Kostenanteil bei den direkt durch die Ärzteschaft abgegebenen Arzneimitteln stark zu, nachdem er 1987 mit 2 Prozent den Tiefpunkt erreicht hatte.
Unsoziale Finanzierung
Das neue Zahlenwerk beleuchtet nebst dem Kostenwachstum auch die Verteilung der Finanzierungslast und damit das zweite grosse Problem des schweizerischen Gesundheitssystems. Die Studie bestätigt den alten Befund, dass die Finanzierung immer ungerechter wird: Der Anteil des Staats ist von 39,5 Prozent im Jahr 1971 kontinuierlich auf 25,3 Prozent im Jahr 2000 gesunken. Das erklärt sich im Wesentlichen mit den proportional gesunkenen Kantonssubventionen für die Spitäler. Im Gegenzug nahm die Belastung der privaten Haushalte weiter zu (siehe Tabelle). Die Bundesstatistiker können sich einen sanften Stoss in die Rippen der Politiker nicht verkneifen: «Entgegen der landläufigen Vermutung, der Sozialstaat sei in den letzten Jahrzehnten ausgebaut worden, zeigt die Analyse der Finanzierung des Gesundheitswesens, dass der Anteil des Staates Ende der Neunzigerjahre einen historischen Tiefststand erreicht hat. Aus Sicht der Sozialpolitik hat sich die Umverteilungsfunktion der öffentlichen Hand tendenziell verringert.» Immerhin zeigen neuere Zahlen aus den Kantonen ab 2001 leichte Besserung.
--- ENDE Pressemitteilung Alle sind schuld am Kostenanstieg ---
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