Nach dem Scheitern der Reform der Krankenversicherung im vergangenen Dezember kommen die Vorhaben des Bundesrats wieder ins Parlament - diesmal in kleineren und verdaulicheren Portionen. Einstimmigkeit ? wenn auch keine Begeisterung - herrschte im Ständerat darüber, dass Reformen in der Krankenversicherung nur in kleinen Schritten möglich seien. Einen solchen ersten Schritt hat der Rat am Dienstag mit der Erhöhung der Kostenbeteiligung der Versicherten getan. Diese sollen so von unnötigen Arztbesuchen abgehalten und zu mehr Eigenverantwortung angehalten werden.
Nach den Beschlüssen des Ständerats steigt der Selbstbehalt für Erwachsene von 10 auf 20 Prozent. Für Kinder bleibt er unverändert. Unverändert ist auch die Obergrenze von 700 Franken pro Jahr, die der Versicherte nebst der von ihm gewählten Franchise aus eigener Tasche bezahlen muss. Auf diese Weise werden - bei einer Grundfranchise von 300 Franken - nur Patienten mit Gesundheitskosten bis zu 7300 Franken stärker belastet als heute. Nach Berechnungen des Bundesrats könnten die Krankenkassen so 420 Millionen Franken pro Jahr sparen und der Prämienanstieg um 2,5 Prozentpunkte gedämpft werden.
Die Berner Sozialdemokratin Simonetta Sommaruga wollte den Selbstbehalt nur für jene Versicherten erhöhen, die sich nicht in einem kostengünstigen Netzwerk behandeln lassen. Sie beantragte deshalb, die Frage der Kostenbeteiligung mit der Förderung von Managed-Care-Modellen zu verknüpfen. Das verlangt auch die vorberatende Sozialkommission des Nationalrats. Doch die Ratsmehrheit folgte ihr nicht und wies ihren Antrag zurück. (clb)
KOMMENTAR Couchepin und Napoleon PATRICK FEUZ
Ziemlich lustlos hat der Ständerat den Neuanlauf zur Gesundheitsreform angepackt. Die Taktik gebietet eine Reform in Einzelschritten, denn im letzten Dezember ist ein Gesamtpaket schon im Parlament am kumulierten Widerstand unterschiedlicher Gruppen gescheitert. Couchepin hält es jetzt mit Napoleon: Dieser habe gesagt, die Kunst der Kriegsführung stecke im Detail. Grosse Strategien seien gut und recht. Aber es gehe in erster Linie darum, Schlachten zu gewinnen.
Feldherr Couchepin hat Recht. Sein Streben nach möglichst schnellen Siegen ist nachvollziehbar. Aber die gedankliche Klammer zwischen den verschiedenen Schauplätzen im Kampf gegen das Kostenwachstum darf nicht verloren gehen. So gesehen ist der gestrige Auftakt im Ständerat missglückt: Am Selbstbehalt der Versicherten zu schrauben, ist vor allem dann sinnvoll, wenn auf diesem Weg finanzielle Anreize für Patienten mit hohen Kosten geschaffen werden, sich kostensparenden Ärztenetzen anzuvertrauen. Sonst bleibt die Verdoppelung des Selbstbehalts eine plumpe Kostenabwälzung, die das Kostenbewusstsein nur minim schärft und ohnehin bloss Bagatellfälle betrifft, die in der gigantischen Milliardenrechnung untergehen. Der Nationalrat sollte deshalb nächste Woche gegen Oberbefehlshaber Couchepin meutern und die Selbstbehalt- Erhöhung verschieben, das heisst erst später mit der Vorlage zur Förderung von Ärztenetzen (Managed Care) behandeln.
So oder so darf es am Schluss der neu gestarteten Reform nicht einfach die Patienten treffen. Es braucht an allen Fronten des Gesundheitswesens Opfer und Einschränkungen. Ärzte, Kantone, Kassen, Spitäler - und später auch die Pharma, die in dieser Runde auffällig geschont wird: Sie alle sollen in irgendeiner Form bluten. Nur wenn dies Couchepin gelingt, wird er, der gerne Geschichtsgrössen zitiert, in die Geschichte der Schweizer Gesundheitspolitik eingehen.
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20 Prozent aus der eigenen Tasche Neuanlauf zur Reform der Krankenversicherung im Ständerat - mit alten Anliegen in verdaulicheren Portionen KVG-Reform in kleinen Schritten: Der Ständerat hat mit der Verdoppelung des Selbstbehaltes für die Versicherten den Neuanlauf gestartet. Er verspricht sich davon weniger Arztbesuche bei Bagatellfällen.
Claudine Böhlen Geht es nach dem Willen des Ständerats, sollen sich Patienten und Patientinnen künftig stärker an ihren Gesundheitskosten beteiligen. Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes von heute 10 auf 20 Prozent will der Ständerat die Selbstverantwortung der Krankenversicherten stärken. Sie soll die Leute davon abhalten, «gleich beim ersten Anzeichen von Unwohlsein zum Arzt zu laufen», wie Kommissionssprecherin Erika Forster (fdp, SG) am Dienstag die Massnahme vor dem Plenum begründete.
Wie bisher soll die maximale Belastung 700 Franken - und zwar im Gesetz festgeschrieben - plus Franchise betragen. Für Versicherte mit der Minimalfranchise von 300 Franken wären das unverändert 1000 Franken pro Jahr.
Nicht alle gleich betroffen Mit dieser Obergrenze wäre sichergestellt, dass Chronischkranken mit hohen Gesundheitskosten nicht stärker belastet werden als heute. Stärker zur Kasse gebeten werden hingegen erwachsene Versicherte mit Kosten zwischen 300 und 7300 Franken pro Jahr. Für Kinder bleibt der Selbstbehalt bei 10 Prozent. Personen mit bescheidenen Einkünften, die Ergänzungsleistungen beziehen, sind von der Erhöhung nicht betroffen.
Eine höhere Kostenbeteiligung hatte das Parlament schon bei der im vergangenen Dezember gescheiterten Revision des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) beschlossen. Damals war die Massnahme allerdings an die Förderung von Ärztenetzwerken geknüpft: Versicherte, die einem solchen Modell angeschlossen sind, sollten quasi als Belohnung ihres kostenbewussten Verhaltens weiterhin 10 Prozent Selbstbehalt bezahlen müssen. Forster räumte ein, dass die vorberatende Kommission über die jetzt isoliert ergriffene Massnahme nicht ganz glücklich war. Sie habe sie aber trotzdem beschlossen, und zwar in der Überlegung, dass die Krankenversicherer ja schon heute die Möglichkeit hätten, kostengünstigere Versicherungsmodelle zu schaffen.
Dass es auch im Plenum einigen Ratsmitgliedern nicht ganz wohl war, manifestierte sich im Abstimmungsergebnis: Die Verdopplung des Selbstbehalts wurde mit 26 zu 2 Stimmen zwar deutlich angenommen, aber volle zehn Ratsmitglieder enthielten sich der Stimme. Sie schielten wohl zur Sozialkommission des Nationalrates hinüber. Diese hat bereits beschlossen, die höhere Kostenbeteiligung nur im Kontext mit anderen Massnahmen wie etwa der Förderung von Managed Care zu erwägen.
Diesen Standpunkt vertrat im Ständerat die Bernerin Simonetta Sommaruga (sp) und verlangte Rückweisung der Vorlage an die Kommission. «Die Versicherten sollen etwas zur Selbstverantwortung beitragen können, indem sie sich einem Ärztenetzwerk anschliessen», forderte sie. Hohe Gesundheitskosten entstünden auch deshalb, weil komplizierte Behandlungen oft nicht koordiniert werden und die Patienten unnötig von Arzt zu Arzt geschickt werden. Mit sozialpolitischen Argumenten versuchte ihr Freiburger Parteikollege Alain Berset die Versicherten vor einer höheren Kostenbeteiligung zu bewahren. Diese treffe vor allem bestimmte Gruppen, zum Beispiel ältere Leute, denen es zwar gut gehe, die aber dennoch öfters zum Arzt müssten. Oder Leute, die nach jahrelanger körperlich schwerer Arbeit wegen Arthrosen oder Rückenleiden in Behandlung seien.
Couchepin: «Moderater Schritt» Gesundheitsminister Couchepin verteidigte die Verdoppelung des Selbstbehalts als sozial vertretbaren, moderaten Schritt. Die Mehrbelastung der Kantone in der Höhe von 25 Millionen Franken (wegen der zusätzlichen Ausgaben bei den Ergänzungsleistungen) sei tragbar. Der Bundesrat rechnet damit, dass die Krankenkassen rund 420 Millionen sparen können. Der Anstieg der Prämien könne so um 2,5 Prozentpunkte gedämpft werden.
Risikoausgleich: Verfeinerung braucht Zeit Die Kritik einer Expertengruppe am bestehenden Risikoausgleich unter den Krankenkassen («Bund» vom 17. September) hat im Ständerat wenig Echo gefunden. Der Rat beschloss, die Ende 2004 auslaufende Regelung, die einen Ausgleich zwischen Kassen mit «guten» und «schlechten» Risiken schafft, vorerst unverändert um fünf Jahre zu verlängern. Die Berner SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga hatte versucht, die Verlängerung auf zwei Jahre zu beschränken, um in der Zwischenzeit eine bessere Lösung auszuarbeiten. In der heutigen Form habe das Instrument die Jagd auf gute Risiken nicht unterbunden und müsse deshalb rasch verbessert werden. Doch der Rat lehnte den Antrag mit 31 zu 7 Stimmen ab. Dies auch im Sinn von Gesundheitsminister Couchepin. Dieser erklärte, die Verfeinerung des Risikoausgleichs stelle schwierige Probleme und brauche Zeit.
Der Ständerat hat weiter beschlossen: >
Zulassungsstopp für neue Ärzte: Der Bundesrat soll ihn ab Juli 2005 um drei Jahre verlängern können. Damit soll die Zeit bis zur geplanten Aufhebung des Vertragszwangs überbrückt werden.
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Versichertenkarte: Sie soll die Rechnungstellung vereinfachen und medizinische Daten für Notfälle enthalten.
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Tarife für Pflegeheime und Spitex: Sie werden eingefroren, bis voraussichtlich 2006 eine neue Pflegefinanzierung in Kraft tritt. (clb) --- Feldherr Couchepin Ziemlich lustlos hat der Ständerat die Neuauflage der Revision des Krankenversicherungsgesetzes angepackt. Im Dezember war im Parlament ein Gesamtpaket am kumulierten Widerstand unterschiedlicher Gruppen gescheitert. Jetzt gebietet die Taktik eine Reform in Einzelschritten. Pascal Couchepin tröstete gestern die Parlamentarier, schon Napoleon habe gesagt, die Kunst der Kriegsführung stecke im Detail. Es gehe darum, Schlachten zu gewinnen. Mit dem abgeschwächten Prämienanstieg sei es in den letzten zwei Jahren schon gelungen, zwei Siege zu erringen.
Couchepin, der sich in die Nähe Napoleons rückt: Ist das die Selbstironie eines Mannes, der weiss, dass ihm viele imperiales Gehabe vorwerfen? Oder sieht er sich wirklich in einer Reihe mit den Grossen der Geschichte? Auf jeden Fall will er seine bisherige Amtszeit als Gesundheitsminister aufpolieren. Der gedämpfte Prämienanstieg sieht besser aus, als er ist. Mit Kostensenkung hat er nichts zu tun. Dahinter stecken die Erhöhung der Minimalfranchise und die Reservensituation der Kassen.
Zur Hauptschlacht erklärt Couchepin die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Kassen und Ärzten. Hier will er als Sieger in die Geschichte eingehen. Aber vielleicht muss er am Schluss wieder Napoleon bemühen - mit dessen letzter Schlacht bei Waterloo. --- Reform in Häppchen Nach dem zweiten Scheitern der KVG-Revision im vergangenen Dezember hat der Bundesrat seine Vorhaben dem Parlament als verdaulichere Einzelmenüs wieder aufgetischt. In den kommenden Monaten ? und vielleicht Jahren ? befassen sich National- und Ständerat mit folgenden Teilprojekten:
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Risikoausgleich: Verlängerung, weil er Ende 2004 ausläuft (vom Ständerat beschlossen).
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Pflegetarife: Einfrieren der heutigen Tarife für Heime und Spitex, bis die neue Pflegefinanzierung (vom Ständerat beschlossen) in Kraft tritt.
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Spitalfinanzierung: Verlängerung des dringlichen Bundesgesetzes (vom Ständerat beschlossen); in einem zweiten Paket Neuregelung der Spitalfinanzierung.
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Vertragsfreiheit: Aufhebung der Pflicht der Krankenkassen, alle Ärzte unter Vertrag zu nehmen.
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Prämienverbilligung/Sozialziel: Entlastung von mittelständischen Familien. Wurde auf die Wintersession verschoben.
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Kostenbeteiligung: Erhöhung des Selbstbehaltes von 10 auf 20 Prozent mit maximaler Obergrenze bei 700 Franken wie heute (vom Ständerat beschlossen).
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Managed Care: Förderung von Gruppenpraxen oder Versorgungsnetzen (Ärzte, Spitäler, Kliniken, Heime) mit Budgetverantwortung; gleichzeitig Förderung von Generika.
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Pflegefinanzierung: Neuregelung der Langzeitpflege in Heimen und zu Hause (Spitex). (clb)
--- ENDE Pressemitteilung Selbstbehalt verdoppelt ---
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